Kurzübersicht
Zeitlos schön
Rainer Maria Rilke ist einer der meistübersetzten deutschsprachigen Schriftsteller weltweit. Marilyn Monroe las ihn, Gerhard Schröder rezitierte ihn, Oliver Kahn interpretierte ihn, Xavier Naidoo sang seine Verse und Lady Gaga gehen seine Texte sogar unter die Haut. Seine Gedichte gibt es mittlerweile in einer eigenen App. Der feinfühlige Dichter ist auch gut 80 Jahre nach seinem Tod so aktuell, wie es ein Klassiker nur sein kann. Jeder kennt ihn und fast jeder mag ihn: Rilke lebt.
Mit seiner Verskunst berührt der begnadete Lyriker auch heute noch die Menschen und ist im 21. Jahrhundert gegenwärtig wie zu Lebzeiten. Der gebürtige Prager darf damit zu Recht als einer der ersten Schriftsteller der Moderne bezeichnet werden. Aber wer war dieser mysteriöse Dichter?
Unser Projekt begibt sich auf die Spur des Menschen Rilke. Sie geht seinen Ängsten und Leidenschaften nach, seiner Kindheit und Einsamkeit, den Begegnungen mit vielen berühmten Männern und Frauen, seinen problematischen Liebesbeziehungen. Waren sie der Quell seiner Inspiration?
Aufbruch in die Moderne
Prag im ausgehenden 19. Jahrhundert. Es ist die Zeit der k. und k. Monarchie, der Belle Époque, eine Ära des Ästhetizismus, die Maler wie Klimt hochleben und sich von Rodin inspirieren ließ. Es ist die Zeit des Fin de Siècle, jener feingeistigen Strömung um die Jahrhundertwende, die den Gefühlskult, die übersteigerte Innerlichkeit zum Ideal erhob.
Kurz zuvor hatten sich mit der Industrialisierung große Umwälzungen Bahn gebrochen, die zwar Erdteile verbanden, aber den Einzelnen zutiefst erschütterten. Globalisierung, Massenproduktion und soziale Probleme in all ihren frühen Facetten – eine Zeit, die uns an heute erinnert. Auf ihre Fragen fanden Forscher und Schriftsteller wie Carl Gustav Jung, Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler Antworten, die immer noch gültig sind. Auf dem Höhepunkt des Fin de Siècle und an der Schwelle zur Gegenwart schrieb jedoch ein Mann, den viele wegen seiner vielschichtigen Schreibkunst als den Anfang der Moderne betrachten: Rainer Maria Rilke.
Die Kindheit
Am 4. Dezember 1875 erblickte in Prag ein Junge mit französisch-deutsch-biblischem Namen das Licht der Welt: René Karl Wilhelm Johann Josef Maria. Die Geburt wurde von einer Tragödie überschattet. Mutter „Phia“ (Sophie) hatte kurz zuvor eine Tochter verloren. Nach dem Tod des Kindes wünschte sie sich sehnlichst erneut eine Tochter, bekam aber einen Sohn. Weil sie den Verlust nicht überwinden konnte, gab sie dem Neugeborenen den weiblichen Namen „Maria“ und erzog ihn wie ein Mädchen.
«Bis zu seinem fünften Lebensjahr trägt er Mädchenkleider. Der Vater sieht ohnmächtig zu. Später erinnert sich Rilke, seine Mutter habe mit ihm wie mit einer großen Puppe gespielt. Auch der Knabe René spielt zum Entzücken der Mutter gerne mit Puppen, kämmt ihnen stundenlang die Haare.»1
Wie man dieses «gerne» zu verstehen hat, gibt vielleicht am ehesten folgender Auszug aus den «Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» wieder: «Es fiel uns ein, dass es eine Zeit gab, wo Maman wünschte, dass ich ein kleines Mädchen wäre und nicht dieser Junge, der ich nun einmal war. Ich hatte das irgendwie erraten, und ich war auf den Gedanken gekommen, manchmal nachmittags an Mamans Türe zu klopfen. Wenn sie dann fragte, wer da wäre, so war ich glücklich, draußen ‚Sophie‘ zu rufen, wobei ich meine kleine Stimme so zierlich machte, dass sie mich in der Kehle kitzelte. Und wenn ich dann eintrat (in dem kleinen, mädchenhaften Hauskleid, das ich ohnehin trug, mit ganz hinaufgerollten Ärmeln), so war ich einfach Sophie, Mamans kleine Sophie, die sich häuslich beschäftigte und der Maman einen Zopf flechten musste, damit keine Verwechslung stattfinde mit dem bösen Malte, wenn er je wiederkäme.»2
Und auch dieses Gedicht verrät einiges über das Verhältnis vom Sohn zur Mutter: Ich weiß es im Traum, und der Traum hat recht.
Wenig später trennten sich die Eltern. Mutter Phia, eine sendungsbewusste Frau, hatte nun die alleinige Verantwortung über den neunjährigen Knaben, nahm sie jedoch nicht im besten Sinne für seine Selbstständigkeit wahr.
Eine Kindheit zwischen den Kulturen: Der junge René wächst im deutschsprachigen Teil Prags auf. In einem Klima der Angst und Herzlosigkeit, zwischen Überforderung und Unterdrückung entwickelt die geschundene Kinderseele ihre eigene Überlebensstrategie. «Rilkes eigentliche, unendlich rührende Leistung» war es, schreibt später der Prager Germanistikdozent Peter Demetz «wie Münchhausen sich an seinem eigenen Haar aus dem Sumpf einer gehemmten Jugend und einer armen Sprache emporgezogen zu haben.»3
Die Jugend
Nach dem gescheiterten Versuch, sich an einer Kadettenanstalt durchzusetzen, verlässt der junge René das Männlichkeits-Klischee, sucht sein Gefühl und schreibt darüber. So schafft er für sich und seine Leser neue Perspektiven.
Reisen und Begegnungen
Er reist in alle Himmelsrichtungen: Norden: Dänemark und Schweden, Osten: Russland, Westen: Deutschland, Süden: Italien, Spanien, Frankreich, Afrika.
Stefan Zweig schreibt: «Er hatte kein Haus, keine Adresse, wo man ihn suchen konnte, kein Heim, keine ständige Wohnung, kein Amt. Immer war er am Wege durch die Welt, und niemand, nicht einmal er selbst, wusste im Voraus, wohin er sich wenden würde.»4
Diese Ruhe- und Rastlosigkeit macht ihm zwar privat schwer zu schaffen, aus seiner Zerrissenheit in eine innere und eine äußere Persönlichkeit, dem Wechsel von Einsam- und Zweisamkeit zieht der sensible Dichter jedoch auch die Inspiration für zahlreiche Werke. Dieser Zwiespalt zeigt sich in seinem «Motto»: «Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit.»
Auf seinen Reisen findet Rilke Landschaften, Menschen und Geisteshaltungen, die ihn inspirieren.
So hat er 1897 eine schicksalhafte Begegnung mit Lou Andreas-Salome, die aus René Rainer macht und dazu beiträgt, dass aus dem Kind es 19. ein Mann des 20. Jahrhunderts wird.
Dichterische Entfaltung
Die Mutter erzog ihn zu einem Mädchen, verzärtelte ihn. So wurde er zu einem hoch sensiblen Jüngling und schrieb „Gefühlskitsch“, Texte, die nur Bilder und Stimmungen zeigen. So wie der junge Dichter vor allem sich selbst sieht, schildert er zuerst nur seine Beobachtungen – ein Narziss5.
Rilke will die Welt erfühlen und merkt nicht, dass Gefühle lediglich eine Möglichkeit sind, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Sachlichkeit, Realitätssinn oder die Perspektive anderer einzunehmen, sind ihm noch fremd. Erst als er sich mit dem Großstadtleben in Paris auseinandersetzen muss, weitet sich sein Blick.
Die Spannungspole seiner tiefgründigen Lyrik sind fortan Innerlichkeit, Bildersprache, Symbolik und Sprachkunst, die in vollkommener Harmonie der großen Gedichte eine sinnträchtige Ästhetik gestalten.
Niedergang
Im Ersten Weltkrieg lebt er in München und wird für kurze Zeit zum österreichischen Landsturm eingezogen. Auf Intervention seiner vielen, meist adeligen Freunde und aus Gesundheitsgründen wird er entlassen. Nach Kriegende begeistert er sich für die Münchner Rätebewegung. Hausdurchsuchungen in der Ain-Miller-Straße 346 sind die Folge. Nach der Zerschlagung der revolutionären Kräfte geht er in die Schweiz. 1921 im «Herbst» seines Lebens bekommt Rilke von seinem Mäzen Werner Reinhart ein «Haus» geschenkt: Das Schloss Muzot im Kanton Wallis. Der «Falke» hat sein Nest gefunden und schreibt seinen Schwanengesang: «Die Sonette an Orpheus».
Am 29. Dezember 1926, im Alter von 51 Jahren, stirbt er im Sanatorium Val-Mont bei Montreux an Leukämie.
1 Rilkes Frauen oder Erfindung der Liebe, Gunnar Decker Aufbau Taschenbuch Verlag 2006, S. 29
2 http://www.rilke.de/roman/roman_31.htm
3 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-25658067.html
4 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers
5 Bezeichnenderweise hat er am Ende seines Lebens die „Narziß-Gedichte“ von Vallery übersetzt und 1913 selber welche geschrieben. Rilkes Frauen oder Erfindung der Liebe, Gunnar Decker, Aufbau Taschenbuch Verlag 2006, S. 259 ff.; Rilke. Überzähliges Dasein. Eine Biografie, Fritz J. Raddatz, Arche 2009, S. 155
6 Hier soll Rilke heute noch spuken. Das passt zu dem Dichter, der mit Marie von Thurn und Taxis regelmäßig Séancen abhielt.